17.09.2021 | Dr. Marcel Nuys

Beware of the EU Commission

optional, Recht & Steuern

Die Europäische Kommission hat am 20. August 2021 ein Verfahren gegen Illumina Inc, einen US-amerikanischen Hersteller von Gentechnikgeräten, wegen eines möglichen Verstoßes gegen das fusionskontrollrechtliche Vollzugsverbot eröffnet.

Hintergrund ist, dass Illumina die Übernahme des Pharmaunternehmens GRAIL vollzogen hat, ohne den Abschluss der Fusionskontrollprüfung durch die Kommission abzuwarten. Der Fall wirft ein Schlaglicht auf zwei für die M&A-Praxis immer wichtiger werdende Themen: Die zunehmend rigorose Verfolgung möglicher Verstöße gegen das Vollzugsverbot durch die Wettbewerbsbehörden sowie die durch die geänderte Kommissions-Praxis immer schwierigere Einschätzung, ob ein Vorhaben in deren Zuständigkeitsbereich fällt.

Vollzugsverbot und mögliche Sanktionen

Nach Art. 7 Abs. 1 der Europäischen Fusionskontrollverordnung (FKVO) darf eine anmeldepflichtige Transaktion erst vollzogen werden, wenn die Kommission grünes Licht gegeben hat. Das Vollzugsverbot untersagt nicht nur das Closing einer Transaktion, etwa durch den Erwerb der Anteile des Zielunternehmens. Nach der Anwendungspraxis der Behörden und Gerichte sind sämtliche Maßnahmen verboten, die in rechtlicher oder faktischer Hinsicht den Zusammenschluss (ganz oder teilweise) vorwegnimmt.

Die Sanktionen, die bei einem Verstoß gegen das Vollzugsverbot drohen, sind empfindlich. Die Wettbewerbsbehörden können erhebliche Bußgelder verhängen (Art. 14 Abs. 2 b FKVO). Zudem kann gemäß Art. 8 Abs. 4 FKVO die Entflechtung – sprich die Rückabwicklung des vollzogenen Vorhabens – angeordnet werden, sollten durchgreifende Wettbewerbsbedenken bestehen, beispielsweise wegen hoher Marktanteile. Schließlich können Vollzugshandlungen schwebend unwirksam sein (Art. 7 Abs. 4 FKVO).

Wie aktiv verfolgen Behörden Verstöße?

Wettbewerbsbehörden wie die Europäische Kommission oder das Bundeskartellamt achten insbesondere in der jüngeren Vergangenheit streng auf die Einhaltung des Vollzugsverbots. Der Fall Illumina reiht sich ein in eine Vielzahl prominenter Verfahren. Exemplarisch seien genannt:

  • 2018 hat der Europäische Gerichtshof im Rahmen des Zusammenschlusses zwischen den Wirtschaftsprüfungsgesellschaften Ernst & Young und KPMG Dänemark (Az. C‑633/16) noch klargestellt, dass ein Zusammenschluss nur durch einen Vorgang vollzogen wird, der ganz oder teilweise, tatsächlich oder rechtlich zu einer Veränderung der Kontrolle über das Zielunternehmen beiträgt. Im konkreten Fall hätten – so die Feststellungen des Europäischen Gerichtshofs unter Rn. 60 der Entscheidung vom 31. Mai 2018 (Az. C-633/16) – die stattgefundenen Vorbereitungshandlungen nicht zu einer dauerhaften Veränderung der Kontrolle über das Zielunternehmen beigetragen.

  • Ebenfalls im Jahr 2018 hat die Kommission ein Verfahren gegen das niederländische Kabel- und Telekommunikationsunternehmen Altice geführt (Entscheidung v. 24. April 2018, M. 7993). Die Kommission – weit weniger nachsichtig als der Europäische Gerichtshof – verhängte ein Bußgeld in Höhe von 124,5 Mio. Euro. Im Kern warf sie Altice vor, schon vor Freigabe bestimmenden Einfluss auf den portugiesischen Wettbewerber PT Portugal genommen zu haben (vgl. M. 7933, Rn. 58 ff). Altice hat die Entscheidung der Europäischen Kommission angefochten. Mit einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs wird noch im September 2021 gerechnet (Az. T-425/18).

  • 2019 hat die Kommission gegen Canon, den japanischen Hersteller von Kameras, ein Bußgeld in Höhe von 28 Mio. Euro im Zusammenhang mit dem Erwerb der Toshiba Medical Systems Corporation verhängt (Entscheidung v. 27. Juni 2019, M. 8179). Canon hatte für den Erwerb  ein zweistufiges Transaktionsverfahren (sog. Warehousing) gewählt: Bei der Übernahme bediente sich Canon in einem ersten Schritt eines Zwischenkäufers, um das Unternehmen bis zur Freigabe des Zusammenschlusses bei einem Dritten zu „parken“. Nach Genehmigung der Übernahme durch die Kommission erwarb Canon in einem zweiten Schritt das Unternehmen vom Zwischenkäufer. Nach Auffassung der Kommission hätte auch der erste Schritt, das „Parken“ bei einem Zwischenerwerber, erst nach kartellrechtlicher Freigabe erfolgen dürfen (M. 8179, Rn. 99 ff). Auch Canon hat die Entscheidung angefochten (Az. T-609/19).

Besonderheiten des Falls Illumina

Verfahren wegen eines möglichen Verstoßes gegen das Vollzugsverbot sind also nicht neu. Gleichwohl ist der Fall Illumina besonders. Die früheren Verfahren drehten sich vor allem um die Frage, ob die jeweils beanstandeten Maßnahmen (Teil-)Vollzug im Sinne des fusionskontrollrechtlichen Vollzugsverbots sind. Illumina hat jedoch die Anteile an GRAIL tatsächlich bereits erworben und damit den Erwerb unstreitig vollzogen.

Kompliziert wird dieser Fall jedoch dadurch, dass Illumina die Zuständigkeit der Kommission in Zweifel zu ziehen scheint. Wäre sie nicht zuständig, so sprächen gute Gründe dafür, dass das Vollzugsverbot keine Anwendung fände.

Der Erwerb von GRAIL durch Illumina fiel nicht originär in die Zuständigkeit der Kommission, weil die Umsätze der Parteien die nach Art. 1 FKVO maßgeblichen Schwellen für eine auf EU-Ebene anmeldepflichtige Fusion unterschritten. Auch sonst war die Transaktion augenscheinlich nicht auf Ebene der Mitgliedsstaaten in der EU anzumelden – und damit – zumindest in der EU – wohl fusionskontrollfrei.

Dass der Fall nun anders liegt, hat seinen Grund in der kürzlich erfolgten Änderung der Behördenpraxis der Europäischen Kommission: Mit dem Ziel, sogenannte „Killer Acquisitions“ – also Transaktionen, die Unternehmen bzw. Technologie vom Markt nehmen sollen – zu unterbinden, hat die Kommission den Anwendungsbereich von Art. 22 FKVO, einer bis dahin kaum genutzten Vorschrift, erheblich erweitert. Nach dieser Norm können Transaktionen, die nicht in den Zuständigkeitsbereich der Kommission fallen, auf Antrag eines (oder mehrerer) Mitgliedstaaten an sie verwiesen werden.

Bislang wurde die Vorschrift so ausgelegt, dass nur ein zuständiger Mitgliedstaat verweisen konnte. Entsprechend überschaubar war die Anzahl der verwiesenen Vorhaben. Nunmehr ermutigt die EU-Kommission die nationalen Wettbewerbsbehörden dazu, auch Vorhaben zu verweisen, die die nationalen Anmeldeschwellen nicht erreichen. Im Fall Illumina ist die französische Wettbewerbsbehörde dem Ruf der Kommission gefolgt, von der neuen Verweisungspraxis Gebrauch zu machen.

Folgen für die M&A-Praxis

Die Auswirkungen für die M&A-Praxis sind erheblich. Bislang bestanden zumindest in der EU klare und nachvollziehbare Kriterien, wann ein Vorhaben der fusionskontrollrechtlichen Freigabe bedarf. Diese Rechtssicherheit scheint nun dahin, wie der Fall Illumina eindrücklich zeigt.

Gleichzeitig ist nicht unwahrscheinlich, dass die Kommission im Fall Illumina einen Verstoß gegen das Vollzugsverbot annehmen wird. Der Vollzug ist unstreitig und es ist schwer vorstellbar, dass die Kommission – entgegen ihrer gezielt geänderten Praxis – ihre Zuständigkeit verneinen wird. Illumina dürfte sich gegen etwaige Maßnahmen der Kommission gerichtlich zu Wehr setzen wollen.

Dann werden die Gerichte auch über die neue Verweisungspraxis der Kommission entscheiden müssen. Zumindest in diesem Punkt dürfte Illumina einige nationale Wettbewerbsbehörden auf seiner Seite wissen. Das Bundeskartellamt hat sich zum Beispiel gegen die neue Verweisungspraxis ausgesprochen, weil es eine Verweisung ohne eigene Zuständigkeit für rechtsstaatlich bedenklich hält. Es gibt schlechtere Ausgangslagen für eine Konfrontation mit der Kommission.

In der Tat mutet es befremdlich an: Eine Transaktion, die weder in den Zuständigkeitsbereich der Kommission noch der Mitgliedstaaten fällt, über eine Verweisung anmeldepflichtig werden zu lassen. Sofern die Kommission tatsächlich eine Schutzlücke ausgemacht haben will, sollte diese durch eine gesetzliche Normierung geschlossen (zum Beispiel wie in Deutschland) werden. Die „Krücke“ Art. 22 FKVO ist sicherlich der falsche Ansatz.

Dr. Marcel Nuys
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Dr. Marcel Nuys

Dr. Marcel Nuys, ist Partner im Bereich Competition, Regulation und Trade im Düsseldorfer Büro von Herbert Smith Freehills LLP.

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