Buy & Build im HealthTech: Warum Plattform-Deals das Digital Health M&A prägen
Im Digital-Health-Sektor steht die Plattformstrategie im Mittelpunkt aller M&A-Aktivitäten, die darauf abzielt, Ankersysteme wie Electronic Health Record (EHR)-Systeme und technische Vernetzungslösungen gezielt mit KI-Modulen, Remote-Care-Lösungen und Abrechnungsmanagementsystemen zu verbinden.
1. Einleitung
Im Digital-Health-Sektor steht die Plattformstrategie im Mittelpunkt aller M&A-Aktivitäten, die darauf abzielt, Ankersysteme wie Electronic Health Record (EHR)-Systeme und technische Vernetzungslösungen gezielt mit KI-Modulen, Remote-Care-Lösungen und Abrechnungsmanagementsystemen zu verbinden.
Das Vorgehen realisiert einen signifikanten Bewertungsvorteil: Isolierte Einzelanwendungen werden typischerweise mit dem Drei- bis Vierfachen des Umsatzes bewertet, integrierte Plattformen hingegen erzielen oft das Sechs- bis Achtfache ihres Umsatzes.1 Dieser große Multiplikator-Unterschied macht Buy-and-Build-Strategien hochattraktiv und prägt die aktuelle Digital-Health-M&A-Landschaft.
2. Marktdynamik: Drei Treiber der Plattformbildung
Der Bewertungsunterschied zwischen isolierten Einzelanwendungen und Plattformen ist der zentrale Anreiz der laufenden Konsolidierung. So zahlte Roper Technologies im März 2025 rund 1,65 Mrd. USD für den auf EHR spezialisierten Anbieter CentralReach, was etwa dem Neunfachen der erwarteten Jahresumsätze im ersten vollen Jahr entspricht.2 Die Kalkulation dahinter ist eindeutig: Für nur das Drei- bis Vierfache des Umsatzes lassen sich weitere Add-ons dazukaufen, die dann sofort von der höheren Plattformbewertung profitieren.
Regulatorische Vorschriften verstärken zusätzlich den Konsolidierungsdruck. Der European Health Data Space (EHDS), der in der EU im März 2025 in Kraft getreten ist,3 macht Interoperabilität zur Compliance-Pflicht. In Deutschland treiben die elektronische Patientenakte (ePA im Opt-out-Verfahren, schrittweise beginnend seit Januar 2025)4 und das E-Rezept die digitale Vernetzung voran. Anbieter ohne moderne, standardkonforme Schnittstellen oder ohne Consent-Management (Einwilligungsverwaltung für Datenzugriffe und -nutzungen) werden zu Übernahmekandidaten oder verschwinden vom Markt.
Gleichzeitig entstehen durch Netzwerkdynamiken – also Effekte, bei denen der Nutzen einer Plattform mit der Anzahl ihrer Teilnehmer steigt – operative Skaleneffekte, die den Plattformansatz wirtschaftlich überlegen machen. Plattformen mit über 100.000 angeschlossenen Ärzten erzielen Effekte, die Einzellösungen verwehrt bleiben. So wird prognostiziert, dass die Kundenakquisitionskosten um bis zu 40% bis 60% sinken können, während der Customer Lifetime Value durch Cross-Selling um das Zwei- bis Dreifache steigt. Net Revenue Retention (NRR)-Raten von über 110% sind bei erfolgreichen Plattform-Integrationen die Regel.5 Diese Kennzahlen stellen die primäre Rechtfertigung für die hohen Multiples dar, sind nach dem Deal-Abschluss aber in der Regel nicht öffentlich verifiziert.
3. Was erfolgreiche Plattform-Deals auszeichnet
Erfolgreiche Healthcare-Plattformen folgen dem sogenannten Plattformkern-plus-Modell. Im Zentrum steht ein Kernsystem mit hoher Nutzerbindung und tiefer Workflow-Integration, typischerweise ein Klinikinformations- oder Praxisverwaltungssystem, ein EHR-System oder ein Vernetzungs-Hub. Solche Kernsysteme zeichnen sich durch hohe Wechselbarrieren (Retention-Raten über 90%) und eine moderne API-Architektur aus.
Hinzu kommen gezielte Add-ons, also spezialisierte Module, die konkrete Probleme adressieren – von KI-gestützter Diagnostik über Remote Monitoring bis zur automatisierten Abrechnung. Diese Zusatzbausteine lassen sich schnell implementieren und führen bei den Einrichtungen zu messbaren Effizienz- und Qualitätsgewinnen, etwa kürzeren Durchlaufzeiten, geringeren Fehlerquoten und weniger Ablehnungen von Abrechnungen.
Die eigentliche Wertsteigerung entsteht durch intelligentes Cross-Selling und Bundling (das Anbieten mehrerer Module als Gesamtpaket). Gelingt es, einen relevanten Teil der Bestandskunden des Kernsystems von den neuen Zusatzmodulen zu überzeugen, steigt der kombinierte Umsatz überproportional. Top-Plattformen erzielen bereits im ersten Jahr Attach-Raten (der Prozentsatz der Kunden, die zusätzlich zum Kernsystem ein Add-on-Modul erwerben) von 30% bis 50%, die nach drei Jahren auf 60% bis 80% anwachsen können. Dabei führt eine Kundenbasisüberlappung von über 40% zu einem deutlich höheren Cross-Selling-Erfolg.
4. Erfolgreiche Konsolidierungsmuster in 2025
4.1 EHR-Konsolidierung: Die Reichweiten-Strategie
Etablierte EHR-Anbieter erweitern durch Zukäufe ihren Kundenstamm für maximale Marktabdeckung. Die bereits zuvor skizzierte Transaktion von Roper Technologies mit CentralReach ist ein Paradebeispiel dafür, da Roper sofort Zugang zu über 125.000 Therapeuten im Bereich Neurodiversität und Verhaltensmedizin erhielt. Diese strategische Reichweitenerweiterung festigt nicht nur die Marktposition in der hochspezialisierten Nische, sondern nutzt das erworbene System zugleich als Ausgangsbasis für weitere Module wie Analytics, KI-gestützte Dokumentation und erweiterte Abrechnungsfunktionen. Durch Add-ons mit Bruttomargen von über 70% soll die EBITDA-Marge erheblich gesteigert werden.
Auch Finanzinvestoren wie Clearlake Capital verfolgen diese Buy-and-Build-Logik und fokussieren sich auf die Skalierung bestehender Plattformen. Clearlake sicherte sich im April 2025 die Mehrheit an Modernizing Medicine (ModMed).6 Die Strategie basiert auf einem profitablen SaaS-Kern mit einer NRR von über 110% als Basis für aggressives Buy-and-Build. Der zentrale strategische Hebel ist hierbei die Komplettierung der ModMed-Suite. Die angekündigten strategischen Zukäufe – darunter KI-basierte Dermatoskopie-Analyse, Telemedizin-Integration und automatisierte Genehmigungsprozesse – sind das definierte Wachstumsmandat des Investors und dienen der Verteidigung der Marktposition in der Dermatologie und Augenheilkunde.
4.2 Virtual-Care-Merger: Die Front-Door-Strategie
Die Front-Door-Strategie zielt darauf ab, die zentrale digitale Anlaufstelle für Patienten zu werden und so die teure physische Erstversorgung zu steuern und zu optimieren. Dieses Ziel wird dadurch erreicht, dass Anbieter virtueller Versorgung fusionieren, um eine digitale Eingangstür zum Gesundheitssystem zu schaffen.
Der Zusammenschluss von Transcarent und Accolade, der im Januar 2025 in einem 621-Mio.-USD-Deal bekannt gegeben wurde,7 illustriert diese Strategie. Die neue Plattform betreut nun rund 20 Mio. Versicherte mit konsequent virtueller Erstberatung. Über 70% aller Erstkontakte sollen digital erfolgen, und die Unternehmen streben an, Besuche der Notaufnahme um etwa 40% zu reduzieren. Die vereinte Plattform deckt den gesamten Patientenpfad ab – vom KI-basierten Symptom-Checker über Videokonsultation bis zur Nachsorge.
Die Notwendigkeit, diesen Patientenpfad lückenlos zu gestalten, zeigt sich auch in gezielten Add-on-Akquisitionen: Im Februar 2025 wurde Catapult Health, ein Unternehmen, das präventive Gesundheits-Checkups mobil zum Patienten bringt, für 65 Mio. USD von Teladoc übernommen.8 Für Teladoc stellt dieses Add-on den finalen Integrationsschritt dar: Laborwerte und Vitalparameter werden strukturiert ins digitale System eingespeist, wodurch Teladoc die Konversionsrate von Screenings in chronische Betreuungsprogramme auf 45% steigern möchte.
4.3 Interoperabilitäts-Integration: Die Datenfluss-Strategie
Plattformanbieter integrieren zunehmend Spezialisten für technische Vernetzung, um einen reibungslosen Datenfluss sicherzustellen. So übernahm Cotiviti im März 2025 den Softwareanbieter Edifecs,9 der jährlich mehr als 3 Mrd. Gesundheitstransaktionen verarbeitet. Die Kombination beider Systeme hat Cotivitis Payment-Integrity-Plattform deutlich verbessert, sodass Cotiviti prognostiziert, dass Vorabgenehmigungen (Prior Authorizations) nun in rund vier Stunden statt in vier Tagen abgewickelt werden und die Quote abgelehnter Abrechnungen um bis zu 35% gesenkt werden kann.
Samsung kündigte im Juli 2025 die Übernahme von Xealth an.10 Xealth integriert digitale Gesundheitsanwendungen direkt in die Arbeitsabläufe von über 500 Krankenhäusern. Für Samsung bedeutet dies eine technische Schnittstelle zwischen Consumer-Wearables und klinischer Versorgung, wobei Vitaldaten von Galaxy-Smartwatches nahtlos in ärztliche Therapieentscheidungen einfließen.
4.4 KI-Suite-Komplettierung: Die Automatisierungsstrategie
Diese Strategie zielt darauf ab, ein bestehendes Technologie-Portfolio zu vervollständigen und so einen durchgängigen Automatisierungsprozess zu ermöglichen. Das französische Unternehmen Gleamer, Anbieter von KI-Software für radiologische Diagnostik, akquirierte im März 2025 die Start-ups Pixyl und Caerus Medical, um seine KI-Suite von Röntgen/CT auf MRT auszudehnen.11 Die Strategie einer solchen Komplett-Suite sieht vor, alle Bildgebungsmodalitäten aus einer Hand vorzuhalten – einen Vertrag, eine Integration, alle Anwendungen. Dies soll zu um 40% kürzeren Befundzeiten führen und Radiologen einen um bis zu 60% höheren Durchsatz ermöglichen. Diese operativen Effizienzsteigerungen sind die Grundlage dafür, dass die Plattform als Ganzes die höheren Bewertungsmultiples rechtfertigen kann.
5. Deutscher Markt: Gematik-Standards als Katalysator
In Deutschland wird die Dynamik besonders stark durch die Regulatorik getrieben. Die Gematik (die nationale Agentur für die digitale Medizin), deren Standards die Telematikinfrastruktur, die elektronische Patientenakte und das E-Rezept definieren, zwingt Anbieter zur Öffnung und begünstigt zugleich Plattformmodelle, die diese Standards integrieren. Seit Januar 2025 wird in Deutschland für jede versicherte Person automatisch eine ePA eingerichtet (Widerspruchs- oder Opt-out-Lösung), und das E-Rezept wird flächendeckend verpflichtend – beides erhöht den Handlungsdruck auf Anbieter erheblich.
Das Delisting von CompuGroup Medical (CGM) durch CVC Capital Partners, dessen Übernahmeangebot im Mai 2025 abgeschlossen wurde,12 illustriert exemplarisch die Konsolidierungsdynamik im deutschen Markt. CGM, einer der führenden Anbieter von Praxissoftware mit Umsatzerlösen von 1,15 Mrd. Euro im Jahr 2024,13 wird unter Private-Equity-Eigentümerschaft für weitere Zukäufe und Integration positioniert. Die Transaktion zeigt, dass die starke Marktstellung von etablierten Infrastrukturanbietern bei ePA- und E-Rezept-Integration, TI-Konnektoren oder sicherer Arzt-Patienten-Kommunikation (KIM-Dienste) den zentralen Hebel für Buy-and-Build-Strategien im regulatorisch getriebenen deutschen Markt darstellt.
Im deutschen Markt positionieren sich weitere bedeutende Akteure für die nächste Konsolidierungswelle. Der Klinik-IT-Anbieter x-tention hat sich als ORBIS-Alternative bei vielen Krankenhäusern etabliert. Im ambulanten Bereich hält medatixx mit seiner Praxis-IT-Lösung einen hohen Marktanteil. Doctolib hat sich als führende Termin- und Video-Sprechstundenplattform mit 400.000 Gesundheitsfachkräften in Europa durchgesetzt.14 Diese etablierten Systeme bieten durch standardisierte Schnittstellen ideale Andockpunkte für spezialisierte Module und könnten sowohl als Käufer als auch als Targets in der weiteren Marktkonsolidierung fungieren.
6. Ausblick und Fazit
Die Plattform-Strategie im Digital-Health-Sektor gewinnt durch einzigartige Markt- und Regulierungstreiber an Dynamik und steht erst am Anfang ihrer potenziellen Wertschöpfung. Die M&A-Aktivitäten 2025 untermauern die zuvor skizzierte Logik: Erfolgreiche Käufer suchen gezielt nach komplementären Add-ons, um diese in ihre stabilen, hoch bewerteten Ankersysteme (EHR/RCM) zu integrieren. Dies ist der zentrale Unterschied zu generischen Buy-and-Build-Strategien in anderen Sektoren.
Auch in naher Zukunft werden strategische Käufer weiterhin spezialisierte Assets suchen, die zur Komplettierung der drei zentralen Strategien dienen. Diese umfassen insbesondere: Interoperabilitäts-Hubs (wie etwa Redox oder InterSystems HealthShare) als Basis für die Reichweiten-Strategie und den reibungslosen Datenfluss; KI-Module (wie Viz.ai oder Aidoc) zur Steigerung der diagnostischen Effizienz im Rahmen der Automatisierungsstrategie, und Virtual-Care-Enabler (wie Amwell oder KRY/Livi) zur Maximierung der Patientenreichweite und -bindung in der Front-Door-Strategie.
Die Verbindung dieser digitalen Basisinfrastruktur mit spezialisierten Lösungen ermöglicht weiterhin einen signifikanten Multiple-Hebel und ist der Schlüssel zur Realisierung der aggressiven operativen Synergien. Für Investoren ist daher ein fundamentales Umdenken erforderlich: Der Fokus muss von isolierten Produktbetrachtungen auf integrierte Plattformstrategien verschoben werden. Interoperabilität und Integrationsfähigkeit sind nicht nur technische, sondern die entscheidenden finanziellen Bewertungskriterien. Die schnelle Positionierung der eigenen Plattform auf Basis hoher Multiples ist die entscheidende wettbewerbsstrategische Herausforderung für alle Marktteilnehmer.
1 HealthTech M&A Multiples June 2025: Current Trends and Variables driving valuations
2 Roper Technologies, Inc. Announces Definitive Agreement to Acquire CentralReach for $1.65 Billion | Nasdaq
3 European Health Data Space Regulation (EHDS) - Public Health
4 Health care in Germany: Learn More – Electronic health records (ePA) and e-prescriptions in Germany - InformedHealth.org - NCBI Bookshelf
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