14.11.2022 | Dr. Harald Linné

Die Lieferkette wird zum Kern der zukünftigen Unternehmensstrategie

Allgemein, optional, Small & Midcaps

Die Engpässe in den globalen Lieferketten sind nicht erst seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs zu einem ernsthaften Problem für den Wirtschaftskreislauf geworden. Schon zuvor hatten sich die Lieferengpässe und der Teilemangel im Zuge des Brexits und Chinas rigider Null-Covid-Strategie angedeutet. Durch die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine nach dem russischen Einmarsch hat sich die ohnehin komplizierte Situation in den zurückliegenden Monaten weiter zugespitzt.

Und Aussicht auf schnelle Besserung ist vorerst nicht in Sicht. Im Gegenteil: Die weiteren Perspektiven sind aus Sicht von zahlreichen internationalen Marktexperten düster, die weltweiten Lieferkettenengpässe dürften noch lange anhalten.

Internationale Studie untermauert ernüchternde Erkenntnis

Diese ernüchternde Erkenntnis untermauert auch eine internationale Studie der in München ansässigen Managementberatung Atreus, bei der exakt 600 globale Spitzenführungskräfte nach ihren Einschätzungen zu Lieferengpässen und Teilemangel befragt worden waren. Das zentrale Ergebnis: Der Lieferkettenengpass und Teilemangel sind ein ernsthafter Anlass zur Sorge und stellen ganze Industriezweige in den jeweiligen Ländern vor große Herausforderungen.

Und die Probleme sind sektorübergreifend frappierend. Befragt wurden Top-Manager aus dem Bank- und Finanzwesen, der Chemie-, Bau- und Pharmabranche, dem Automotive-Segment und aus den Bereichen Konsumgüter, Handel, Elektronik, Energie, Gesundheit, IT und Immobilien. Aber auch Vertreter aus der Stahl- und Metallindustrie, Telekommunikation, dem Dienstleistungssektor, Transport, Tourismus sowie Versorger und Private-Equity-Häuser zählten zu den Teilnehmern der Studie.

Neben Konzernlenkern, Managern und Eigentümern von Unternehmen wurden auch zahlreiche weitere Führungskräfte befragt. So etwa auch Aufsichtsratsmitglieder, Finanzchefs, Teamleiter, Interimsmanager, Büroleiter, Projektmanager und Regionalmanager.

Die meisten davon kamen aus Deutschland und weiteren europäischen Staaten, darunter Italien, Norwegen, Belgien, Frankreich, Spanien, Niederlande, Österreich und Schweiz. Aber auch Führungskräfte aus Süd- und Mittelamerika (Brasilien, Kolumbien, Mexiko), Nahost (Vereinigte Arabische Emirate), Asien (China, Japan, Hongkong) und Nordamerika (USA) wurden um ihre Einschätzung gebeten.

Automotive-Branche und Energiesektor besonders hart getroffen

Fakt ist: Die anhaltenden Engpässe in den Lieferketten wirken sich zunehmend negativ auf die weltweite Industrie aus. Insbesondere der ohnehin schon kriselnde Automotive-Sektor, die von der derzeitigen Wirtschaftskrise besonders hart getroffene Energiebranche und auch die Stahl- und Metallhersteller bekommen die akuten Nachschubprobleme zu spüren. Ihr hemmender Einfluss auf die Entwicklung von weltweit operierenden Unternehmen ist längst nicht mehr wegzudiskutieren.

Doch welche Lösungsansätze kann es geben? Neben der dringend notwendigen Erhöhung des Innovationslevels und der signifikanten Vergrößerung der Zahl der Zulieferer vor Ort sind die Unternehmen dringend gefordert, Produktionsstätten zurück ins eigene Land zu verlagern, um unabhängiger von den Lieferkettenengpässen werden zu können. Außerdem müssen technische Entwicklungen vorangetrieben werden.

Denn immer mehr Unternehmen werden in größerem Ausmaß von den Marktverwerfungen tangiert, der Erfolg ihrer Geschäftsmodelle steht auf dem Spiel und gerät zunehmend ins Wanken. Der negative Einfluss nimmt zu, nur wenige Unternehmen können sich der Krise und ihren Folgen momentan noch entziehen.

Wie kritisch die Gesamtlage ist, zeigt sich auch daran, dass führende und bedeutende europäische Industrienationen wie Deutschland und Italien mittlerweile einen erheblichen negativen Einfluss der Lieferkettenengpässe auf ihre Länder sehen. Auch wenn kleinere Industriestaaten wie Norwegen oder Belgien die Auswirkungen derzeit noch besser abfedern können, dürften auch sie die Krise demnächst verstärkt merken.

Stimmung in den Unternehmen hat sich eingetrübt

Insofern kann es kaum verwundern, dass sich die allgemeine Stimmung in den Unternehmen eingetrübt hat und die Aussichten nicht rosig sind. Mehr als die Hälfte der Betroffenen geht sogar davon aus, dass Nachschubprobleme und Teilemangel noch länger als zwei Jahre andauern dürften. Dabei spielt neben dem russischen Angriff auf die Ukraine natürlich auch Chinas Corona-Politik eine wichtige Rolle. Hinzu kommen Kürzungen im Logistikbereich im Zuge der Pandemie und geringere Transportkapazitäten, die den Unternehmen das Leben zusätzlich erschweren. Höhere Energiekosten und der Wegfall von Arbeitsplätzen tun ein Übriges, um die Lage endgültig kompliziert zu machen.

Zur Folge hat all dies, dass Unternehmen nicht nur Umsatzeinbrüche befürchten müssen, sondern sich auch mit insgesamt stark steigenden Kosten konfrontiert sehen. Doch es droht noch mehr Ungemach: Schließlich zeichnen sich Gewinneinbrüche im Projektgeschäft, stornierte Aufträge, verlorene Kunden und sinkende Kundenloyalität bereits zum jetzigen Zeitpunkt ab.

Tatkraft, Ideenreichtum und Handlungsstärke sind gefordert

Die Konsequenz ist klar: Unternehmen sollten sich neu ausrichten und somit die sich ihnen bietenden Chancen nutzen, um dauerhaft wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Lage ist zwar kritisch, doch es gibt auch guten Grund zur Hoffnung, wenn man seine Hausaufgaben gewissenhaft macht. So haben viele Unternehmen in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte mit der Optimierung ihrer Supply Chain gemacht. Ungeachtet dessen stehen sie vor der Herausforderung, Supply & Demand zu synchronisieren. Es hilft daher, moderne MES-Systeme und SOP-Tools einzuführen, um Planungen, Simulationen und Lieferfähigkeit deutlich zu verbessern.

Derjenige, der seine Beschaffung wirklich in den Griff bekommt, kann seine Kunden zuverlässig bedienen und kommt aus der Spirale raus, dass die Bestände in die Höhe gehen, die Liquidität des Unternehmens aufgrund fehlender Bauteile leidet – und Kunden letztlich unzufrieden sind.

Es gilt also, aktiv gegenzusteuern und konkrete Maßnahmen zu ergreifen, die möglichst rasch und wirksam umgesetzt werden können. Dazu muss ein ganzes Bündel geschnürt werden, Einzelmaßnahmen reichen in Anbetracht der Komplexität der Lage nicht aus. Das gilt vor allem für die besonders stark von den Lieferkettenengpässen beeinträchtigte Automobilindustrie mit Herstellern und Zulieferern. Auch die Bereiche Logistik, Transport und Verkehr sowie das produzierende Gewerbe und der Energiesektor sind stark gefordert.

Damit es gelingen kann, die vielschichtigen Lieferkettenprobleme perspektivisch abzufedern, muss an verschiedenen Stellschrauben gedreht werden. Zu den wichtigsten Aufgaben gehören dabei das Ersetzen fehlender Rohstoffe durch andere Ressourcen und das Durchsetzen von Preiserhöhungen. Ein besonderer Fokus liegt zudem auf dem Top-Management, dessen Aufgabe es ist, die jeweilige Führungskultur in den Unternehmen und natürlich auch den Workflow zu optimieren. Es liegt viel Arbeit vor den Unternehmen, die sich umfassend beraten lassen sollten, um sicherzustellen, dass sie die richtigen Schritte zur richtigen Zeit gehen.

Ein Executive kann dabei als Linienmanager oder als Projektleiter agieren und bei der Bestandsreduzierung und der Optimierung der Materialverfügbarkeit unterstützen. Der eingesetzte Manager kann durch seine fachliche Kompetenz dafür sorgen, dass ein stringentes Taskforce-Management inklusiv täglichem Fehlteile-, Bestands- und Auftrags-Reporting eingeführt und umgesetzt oder verbessert wird. Darüber hinaus sollte ein konsequentes Eskalationsmanagement auf Lieferantenseite und ein Deeskalationsmanagement auf Kundenseite durchgeführt werden. Weiterhin sollte über Alternativquellen (Hersteller, Distributoren u.a.) die Bauteileversorgung optimiert werden.

Dr. Harald Linné
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Dr. Harald Linné

Dr. Harald Linné ist Managing Partner und Co-Gründer der Managementberatung Atreus mit Sitz in München. Sein Fokus liegt auf der professionellen Besetzung von Topmanagement-Positionen für Unternehmen in Restrukturierungs- und Turnaround-Situationen sowie auf Programm- oder Projektmanagement und internationalen Aufgabenstellungen.

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