14.11.2022

Vom Regen in die Traufe? Was dem Mittelstand zu schaffen macht und wie Probleme zu überwinden sind

Allgemein, optional, Small & Midcaps

Ein Übel gegen ein noch größeres tauschen – das meint die Redensart „vom Regen in die Traufe kommen“. Eben diese Worte hat wohl so mancher Mittelständler im Kopf, wenn es darum geht, die eigene momentane Situation zu vermessen.

Die Corona-Pandemie ist noch nicht überwunden, dauerhafte Herausforderungen wie Digitalisierung und Fachkräftemangel schweben als Aufforderung zur Veränderung weiter über den Unternehmern, und dazu kommen der russische Angriffskrieg in der Ukraine, die damit einhergehenden Energieengpässe und -preisexplosionen, eine steigende Inflation, Lieferkettenprobleme und mehr. Gerät man „vom Regen in die Traufe“, meint das wortwörtlich: Regnet es, tröpfelt Wasser vom Dach und durch die Dachrinne über die Traufe. Wer also unter dem Vorsprung Schutz sucht, wird eventuell erst recht durchnässt. Ausweglos also die Situation. Das allerdings trifft im übertragenen Sinne auf den deutschen Mittelstand keineswegs zu.

Zunächst einmal gilt es, die Situation objektiv zu betrachten. Carsten Mumm, Chefvolkswirt der Privatbank Donner&Reuschel, sieht vor allem ein Problem: „Die deutsche Wirtschaft leidet zurzeit besonders unter kaum abschätzbaren Perspektiven für die kurzfristige Geschäftsentwicklung.“ Die massiv steigenden Erzeugerpreise, allen voran im Bereich der Energie, erschweren Planungen laut dem Experten „enorm“. Hinzu kommen laut Mumm „steigende Zinsen, anhaltende Lieferkettenprobleme und die globale Konjunkturabkühlung, die besonders die exportabhängige Industrie auch nachfrageseitig treffen wird“. Und als reiche das nicht an Herausforderungen, ergänzt Mumm: „Viele Unternehmen aus Dienstleistungssektoren und dem Handel werden zudem durch den absehbar deutlich reduzierten privaten Konsum aufgrund allgegenwärtig steigender Lebenshaltungskosten ausgebremst.“ Der Chefvolkswirt zieht erst einmal ein nicht sehr erfreuliches Fazit: „Für viele kleinere und mittelgroße Unternehmen mit weniger starken Finanzpolstern dürfte es in den kommenden Monaten sogar um die Existenz gehen.“

Jan Pörschmann, Managing Partner bei Proventis Partners, bewertet die Lage hinsichtlich der vielen einander bedingenden Herausforderungen ähnlich. Für den M&A-Berater gehören neben der Energiekrise vor allem der Fachkräftemangel in Verbindung mit der Lohn-Preis-Spirale sowie fragile Lieferketten und steigende Kreditkosten zu den größten Herausforderungen. Julian Will, Geschäftsführer bei Nachfolgekontor, wird noch drastischer: „Pandemie- und kriegsbedingte Schocks können im Einzelfall mit nahezu sofortiger Wirkung die vollständige Geschäftsgrundlage gestandener Mittelständler entziehen.“ Gerade Lieferkettenengpässe hebt Will als kritisch hervor: „Neben der Herausforderung, überhaupt Material zu beschaffen, kämpfen Unternehmen mit der Logistik, um die Ware ins Land zu bekommen.“ Will bilanziert: „Allen Branchen ist gemein, dass das Thema Unsicherheit eine der größten Herausforderungen darstellt. Der Mittelstand befindet sich aktuell in Abhängigkeit der tagesaktuellen Entwicklungen und kann entsprechend nur kurzfristig angepasst re- und nicht langfristig und marktbestimmend agieren. Um diesem Aktionismus entgegenzuwirken, braucht der deutsche Mittelstand wieder Planungssicherheit.“

Ein Status quo also, der berechtigterweise Kopfzerbrechen bereitet. Und auch für die kommenden Monate ist die Prognose – vorsichtig ausgedrückt – wenig beruhigend: Aller Voraussicht nach bewegt sich die deutsche Wirtschaft auf eine Rezession zu, die bis in das erste Halbjahr 2023 andauern wird. Wie stark der Rückgang ausfällt, hängt zum Beispiel von der Versorgung mit Gas ab und ob es hier zu einem Mangel kommen wird. Dementsprechend äußert sich auch Pörschmann zur zu erwartenden Situation: „Gerade bei energie- und lohnintensiven Unternehmen im produzierenden Gewerbe und Branchen mit hoher Konsumabhängigkeit rechne ich mit einer deutlichen Eintrübung des Geschäftsklimas.“ Diese Einschätzung teilt der Mittelstand – zumindest einer seiner bekanntesten Vertreter: Wolfgang Grupp, Geschäftsführer des Textilunternehmens TRIGEMA, erklärt auf Nachfrage: „Für Unternehmer ist die Situation unhaltbar, die Lage katastrophal.“ (Lesen Sie das gesamte Interview mit Grupp auf den Seiten 10/11.) TRIGEMA, erläutert der Geschäftsführer, nutze Gas als Grundenergie – trotz 100% Eigenkapitalquote und Rücklagen seien die Preissteigerungen langfristig existenzgefährdend. Und Grupp leidet aktuell „nur“ unter dem Energiepreis: Seine Produktion läuft komplett in Deutschland, womit Lieferkettenprobleme TRIGEMA nicht tangieren. Dazu kommt die Beschäftigungsgarantie, die der Unternehmer seinen Mitarbeitern seit Jahren gibt und die dazu beiträgt, dass TRIGEMA kaum unter Fachkräftemangel leidet.

Angesichts dieser Gemengelage erscheint einem „vom Regen in die Traufe“ dann plötzlich doch mehr als angebracht – wo und wie kann der deutsche Mittelstand sich noch „unterstellen“? Experte Will sieht die Verantwortung in einer schnellen Reaktion der Unternehmen: „Es ist essenziell, die Situation und alle Herausforderungen, die sich daraus ergeben, anzunehmen und sich bestmöglich darauf einzustellen.“ Der Experte setzt auf Stabilität und Krisenbeständigkeit der meisten etablierten Unternehmen – auch in dieser Marktlage.

Dazu kommt die Unterstützung der Politik. Pörschmann: „Die Energiepreisbremse ist kurzfristig ein scharfes Schwert.“ Auch Mumm meint: „Die bisher vorgeschlagenen Maßnahmen der Expertenkommission lindern einen Teil der akuten Not.“ Beide sind sich allerdings auch einig, dass es langfristig mehr braucht. Mumm betont, dass die Maßnahmen für viele schon heute in ihrer Existenz gefährdete Unternehmen zu spät kommen oder nicht ausreichen könnten. „Zudem sind sie sehr pauschal und beziehen kaum unternehmensindividuelle oder branchenspezifische Situationen ein.“ Dazu, so der Experte, sei die Ungleichbehandlung von Industrie und Handwerk beziehungsweise kleinen und mittelständischen Unternehmen nicht optimal. Und auch Pörschmann ist der Meinung, dass die Maßnahmen weiter gehen müssten: „Kreative Ansätze, um die Übergewinne bei Energieerzeugern des ‚Merit-Order-Prinzips‘ zu vermeiden, sind notwendig.“

Konkret, so betrachtet es Will, brauche es eine gemeinschaftliche und stark auftretende Europäische Union. Die Energiekrise sei nur europäisch einigermaßen verträglich zu lösen. Als Beispiel nennt der Experte einen kumulierten und kombinierten Gaseinkauf – und damit bessere Konditionen und sichere Verhandlungspositionen für mehrjährige Lieferverträge; außerdem Gaspreisdeckelungen und einhergehend langfristige Handlungssicherheit für europäische und deutsche Unternehmen. „Für alle Unternehmen gleich entscheidend ist ein rasches Handeln und Einleiten der notwendigen Rahmenbedingungen“, erklärt Will. „Mittelständler und Geschäftsmodelle sind wandelbar, flexibel und anpassungsfähig. Der entscheidende Aspekt ist jedoch die Klarheit darüber, unter welchen neuen Rahmenbedingungen ein langfristiges Bestehen zu sichern ist.“

Sind die akuten „Schauer“ mit Hilfe solcher Maßnahmen zumindest so weit abgewandt, dass niemand ertrinkt, kann die langfristig krisenresistente Aufstellung des Mittelstands angegangen werden. Dazu Pörschmann: „Neben naheliegenden Fokussierungs-, Flexibilisierungs- oder Cost-Cutting-Initiativen beobachten wir einen deutlichen Trend, das wertvolle und knappe Humankapital auch in schwierigen Zeiten zu halten und zu binden. Näher zusammenrücken, gemeinsam kreative Lösungen zu entwickeln und mit vereinten Kräften durch aufgewühlte Wasser zu segeln, kann viel zur Resilienz von Unternehmen beitragen.“

Auf Seiten der Politik definiert Pörschmann besonders folgenden Punkte als essenziell: aktive Förderung von Innovation, Forschung und Entwicklung sowie Technologien in ressourcen-effizienzsteigernden Themengebieten wie der Automatisierung und Robotik, Digitalisierung oder Energieeffizienz.

Zudem, so der M&A-Berater, müsse in Bildung und Infrastruktur investiert und zeitgleich Bürokratie abgebaut werden. Außerdem sei das Anwerben ausländischer Fachkräfte zu fördern und zu vereinfachen.

Und auch die kontinuierliche Weiterentwicklung des eigenen Unternehmens spielt eine große Rolle, das bestätigen sowohl Will als auch Pörschmann. M&A-Transaktionen können in diesem Zusammenhang sinnvoll sein, sei es wegen Fokussierungen, dem Abstoßen weniger profitabler Geschäftseinheiten oder schlicht als Kapitalmaßnahme. Pörschmann: „Geschicktes Agieren und Verhandeln können in solchen Situationen zu Schnäppchen-Deals führen.“ Will ist ebenfalls überzeugt von einem signifikanten Aufholpotenzial bei attraktiven Deals. Die Verkaufsabsichten der Unternehmer seien weiterhin gegeben. „Ebenso überwiegen die strategisch erhofften langfristig ausgelegten Synergieeffekte auf Käuferseite trotz steigender Finanzierungskosten auch in dieser Marktlage.“ Hinzu komme, dass Mittelständler anorganisches Wachstum genau jetzt als probates Mittel zur strategischen Neuausrichtung forcierten. Zudem, erklärt der Experte, „führen die aktuellen Krisen zu einem klaren rückläufigen Internationalisierungstrend, um globale Lieferkettenabhängigkeiten zu beseitigen oder zumindest zu mildern.“ Ins Ausland verlagerte Produktionskapazitäten würden in der Heimat reaktiviert, neu aufgebaut oder zugekauft.

Vom Regen in die Traufe? Auf den ersten Blick mag es so wirken, als beschreibe die Redensart die Lage des deutschen Mittelstands aktuell optimal. Allein: Sieht man genauer hin, betrachtet man die Entwicklungspotenziale in und nach den Krisen, so gilt zumindest für solide wirtschaftende Unternehmen mit ausreichender Kapitalausstattung, dass es weiterhin Möglichkeiten gibt, sich unterzustellen und – um noch eine Redensart zu bemühen – die eigenen Schäfchen im Trockenen zu behalten.

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