12.12.2024 | Giuseppe Di Tommaso, Jan Wetter

Sonderfall Gesundheitswesen: Der steinige Weg zu Digital Health

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen schreitet gegenüber anderen Branchen teilweise deutlich langsamer voran. Gründe dafür finden sich insbesondere bei der staatlichen Regulierung, der kontinuierlich steigenden Ressourcenknappheit, dem Datenschutz sowie bei unterschiedlich gelagerten Interessen zahlreicher Stakeholder in einem stark von Abhängigkeiten geprägten Markt.

Special Topic

1. Einleitung

Die Digitalisierung im Gesundheitswesen schreitet gegenüber anderen Branchen teilweise deutlich langsamer voran (vgl. Abb. 1). Gründe dafür finden sich insbesondere bei der staatlichen Regulierung, der kontinuierlich steigenden Ressourcenknappheit, dem Datenschutz sowie bei unterschiedlich gelagerten Interessen zahlreicher Stakeholder in einem stark von Abhängigkeiten geprägten Markt. Um dem Druck auf das Gesundheitssystem nachzukommen, effizienter zu funktionieren und Kosten zu sparen, ist die Branche auf wirksame digitale Lösungen dringend angewiesen.

Abb. 1 • Digitalisierung nach Sektor

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Quelle: Digital Transformation & Tech Adoption by Sector, Levi Olmstead, whatfix.com

2. Ausgangslage

Seit Jahrzehnten ist die digitale Transformation in praktisch jeder Branche ein entscheidender Faktor für Wachstum und höhere Effizienz. Im Gesundheitssektor kommt sie allerdings nur zögerlich in Schwung. Die Gründe dafür sind vielfältig: die Komplexität des Sektors bestehend aus zahlreichen, fragmentierten Interessengruppen, hohe regulatorische Hürden und historisch gewachsene Legacy-IT-Systeme, die die Einbettung neuer Lösungen erschweren. Dennoch ist man sich einig, dass die Digitalisierung auch im Gesundheitswesen enormes Potenzial bietet. In diesem Artikel werden die zentralen Herausforderungen und spezifischen Komplexitäten der digitalen Entwicklung im Gesundheitswesen beleuchtet und aufgezeigt, welche Konsequenzen sich daraus für M&A-Aktivitäten in dem Bereich ergeben.

3. Eine Vielzahl an Gründen verlangsamt die Digitalisierung der Gesundheitsbranche

Das moderne Gesundheitssystem ist ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Interessengruppen, bestehend aus Patienten, Ärzten, Praxen und Krankenhäusern, privaten und gesetzlichen Versicherungen als Kostenträgern und staatlichen Institutionen. Jeder dieser Akteure verfolgt unterschiedliche Interessen und Ziele. Diese fragmentierte und stark verwobene Interessenlage macht eine gezielte Koordinierung und Optimierung des Gesamtnutzens schwierig und hat zur Folge, dass ganzheitliche digitale Lösungen oft nur langsam und unter großem Kostenaufwand und Unsicherheit erfolgreich etabliert werden können.

Das ausschlaggebende Mittel, die verschiedenen Einzelinteressen in der Branche zu steuern, liegt in der staatlichen Regulierung. Deren Auftrag ist es, die gesundheitliche Versorgung sicherzustellen und gleichzeitig das Wohl sowie die Privatsphäre der Patienten zu schützen. Doch die Vergangenheit hat gezeigt, dass der Fortschritt in der Digitalisierung nicht seitens des Staates kommt. Während dieser bemüht ist, dafür die Rahmenbedingungen zu schaffen, kommt der Treiber für Innovation klar aus der Privatwirtschaft.

Ein weiteres Hindernis sind die historisch gewachsenen IT-Infrastrukturen, die den heutigen Anforderungen zum Teil schon länger nicht mehr genügen. Über Jahrzehnte haben sich Systemlandschaften entwickelt, die zur Kompatibilität mit neuen Systemen immer wieder nach komplizierten, teuren Schnittstellen verlangen, was die reibungslose Kommunikation und den effizienten, sicheren Datenaustausch zwischen den verschiedenen Akteuren behindert. Um dies zu bereinigen, müssten komplett neue Systemlandschaften aufgebaut werden. Dies wäre mit unangemessen hohen Kosten und Umsetzungsrisiken verbunden, was in Anbetracht der hohen Anzahl an involvierten Akteuren und deren unterschiedlich gerichteten Interessen kaum umzusetzen ist.

Entwickler neuer digitaler Lösungen sehen sich also mit dem Problem konfrontiert, dass sich ihr Produkt in eine Vielzahl bereits bestehender Systeme einfügen muss, was technisch wie auch organisatorisch nicht einfach zu bewältigen ist. Überdies ist häufig nicht klar, wer für die Zulassung der neu entwickelten IT-Produkte schlussendlich zuständig ist. Aus Sicht des Entwicklers fehlen klar identifizierbare Anlaufstellen, um die Produktentwicklung zu begleiten.

Ein weiterer Faktor, der die digitale Transformation im Gesundheitswesen behindert, liegt in der Sensibilität personenbezogener Daten und insbesondere von Gesundheitsdaten. Die Speicherung, Übermittlung, Verarbeitung und der Besitz von Gesundheitsdaten unterliegen einer strengen Gesetzgebung, was die Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren – beispielsweise zwischen Haus- und Facharzt oder zwischen Ärzten und Medikamentenversorgern – stark limitiert. Häufig sind die existierenden rechtlichen Rahmenbedingungen unklar, denn der Gesetzgeber braucht Zeit, um technologische Fortschritte und neue Realitäten abzubilden. Oft fehlt denn auch der politische Wille und/oder die Kompetenz, diese Lücken zügig zu füllen und damit sichere rechtliche Rahmenbedingungen für Investitionen im Bereich digitaler Gesundheit zu schaffen.

4. Anhaltender Druck für ein effizienteres, kostengünstigeres Gesundheitswesen

Als Folge der komplexen Fragmentierung, IT-Altlasten und gesetzlicher Unsicherheit stehen am Anfang vieler Projekte hohe Entwicklungs- und Implementierungskosten, die Jahre später dann vielleicht einmal in einem verwendbaren Produkt münden und Wert generieren. Doch bis dahin hält die hohe Unsicherheit, wie sich das regulatorische Gerüst weiterentwickelt, an. Kein Wunder also, dass viele Akteure davon absehen, umfassende Digitalisierungsmaßnahmen zu ergreifen.

Angesichts laufend steigender Kosten, unter anderem getrieben durch die Verbreitung von Zivilisationskrankheiten und den demografischen Wandel hin zu einer immer älter werdenden Gesellschaft, ist der Druck auf den Gesundheitsbereich als Ganzes immens, Kosten zu sparen. Die Digitalisierung bietet dahingehend erhebliche Potenziale zur Effizienzsteigerung in einem chronisch überlasteten und in besonderem Maße von Ressourcen- und Kapazitätsengpässen geprägten Gesundheitswesen. So können beispielsweise digitale Lösungen wie elektronische Patientendossiers sowie die elektronische Ausstellung von Rezepten administrative Prozesse des Gesundheitswesens beschleunigen. Ein weiteres Beispiel für den Einsatz von Software im Gesundheitswesen ist, die von digitalen Diagnosewerkzeugen unterstützte, asynchrone Telemedizin. Hierbei können einerseits die Aufwände der Patienten deutlich reduziert (bspw. keine Wartezeiten, nutzerfreundliche Anmeldungen, örtliche und zeitliche Flexibilität) sowie die Effizienz bei der ärztlichen Kontaktierung (frühe Triage der Patientenanliegen, effiziente Zuteilung der knappen Ressourcen medizinischer Fachkräfte etc.) deutlich gesteigert werden. Dank digitaler Lösungen erhalten Patienten einen schnelleren Zugang zu Erstdiagnosen sowie möglichen Behandlungsoptionen, was das Problem hoher Folgekosten durch unterlassene Frühdiagnosen lindert und die Genesungswahrscheinlichkeit deutlich steigert.

5. Start-ups in der Initiative und Coopetitions für neue Lösungsansätze

Die Entwicklung einer funktionierenden digitalen Lösung, die dazu einen echten Beitrag zu leisten vermag, ist entsprechend lukrativ, weshalb über die letzten Jahre verschiedene Firmen – oft kleine Start-ups mit der nötigen Wendigkeit – den obengenannten Herausforderungen zum Trotz damit begonnen haben, neue digitale Lösungen zu schaffen und damit auch Impulse für zukünftige staatliche Regulierungen zu geben. Immer öfter spannen Firmen zusammen um gemeinsam weiterreichende, effektivere Lösungen zu entwickeln. Nicht selten sind diese Firmen Wettbewerber untereinander. Als Beispiel dienen Plattformen wie Compassana und Well, in deren Rahmen sich die Einzelakteure zusammentun, um möglichst standardisierte digitale Lösungen auszuarbeiten. Diese sogenannten Coopetitions, eine Mischung aus Kooperation und Wettbewerb, stellen proaktiv Lösungen bereit, auch da, wo die staatliche Regulierung hinterherhinkt. So greifen sie dem Gesetzgeber vor, welcher dann die Gesetzeslücken basierend auf den bereits ausgebildeten Strukturen schließen kann.

Doch die Entwicklung solcher Lösungen bleibt beschwerlich und befasst sich dementsprechend meist mit spezifischen, klar umrissenen Themenbereichen. Obwohl es in der Natur des Gesundheitswesens und im Interesse des Gesundheitssystems liegt, Patienten möglichst ganzheitlich zu behandeln anstatt sich isoliert einzelnen gesundheitlichen Problemen zu widmen, scheint Digital Health dieser Herausforderung noch nicht gewachsen. So gingen in jüngster Vergangenheit die größten Investitionssummen immer noch an digitale Apotheken und an Firmen, die sich der Telemedizin und Teletherapie widmen.

6. Spezifische Aspekte von M&A im digitalen Gesundheitswesen

Basierend auf den dargelegten Dynamiken zeigen sich verschiedene Entwicklungen und Tendenzen im M&A-Bereich.

Zum einen sehen sich in vielen Fällen Digital Health Start-ups auf ihrem langen Weg zur Profitabilität wiederholt gezwungen, frisches Kapital einzusammeln, um die Produktentwicklung weiter voranzutreiben. Allein das Durchlaufen aufwendiger medizinischer Zertifizierungsprozesse dauert oft deutlich länger als geplant und bindet Kapital und Ressourcen. Hinzu kommt das ständige iterative Abstimmen zwischen den zahlreichen involvierten Akteuren, um auf dem Weg zur Marktreife sicherzustellen, dass das Endprodukt dann auch von ihnen allen eingesetzt werden kann. Diese Finanzierungsrunden hin zur Produkteinführung und Generierung von Zahlungsströmen kommen dann bereits nach dem Seed-Investment, während sich das Unternehmen aber gleichzeitig noch klar außerhalb der Kriterien befindet, die ein Wachstumsinvestor üblicherweise erfüllt sehen will, womit die Kapitalsuche durch die klassischen Raster fällt.

Ist dann der Kraftakt letztlich von Erfolg gekrönt und das Produkt vom Markt aufgenommen, sind die Exitprozesse im Digital Health immer noch deutlich weniger ausgereift als zum Beispiel bei der Entwicklung neuer Medikamente oder Therapien. Falls ein etablierter Teilnehmer im Gesundheitswesen als Käufer ausgereifter digitaler Lösungen auftritt, reflektiert dies oft klassische Beweggründe für M&A, nämlich den Einkauf von Innovation und Know-how (ressourcenbasierte Theorie) und damit einhergehend auch das Hindern von Konkurrenten am Zugang zu diesem Know-how. Um für die erfolgreiche Integration solcher Zukäufe gerüstet zu sein, holen sich gestandene Akteure durch gezielte Rekrutierung zusätzliches Digitalisierungswissen ins Haus, so geschehen beispielsweise bei der Galenica Group mit der Verpflichtung eines CEO aus der Kommunikationsbranche.

Doch die Gesundheitsbranche als Ganzes ist nicht gerade für ihre Risikoaffinität bekannt. Die konservative Industrie tut sich nach wie vor schwer damit, den jungen, dynamischen und von Wagniskapital geprägten digitalen Bereich (finanziell) zu fördern. Entsprechend geht der Kreis möglicher Käufer über etablierte Marktteilnehmer hinaus. Die nicht zuletzt der einschneidenden, weitflächigen Regulierung geschuldeten Ineffizienzen im Gesundheitswesen machen auch einen Quereinstieg für Branchenaußenseiter interessant, die überdies frische Perspektiven an die zu bewältigenden Herausforderungen heranzutragen vermögen. Ein prominentes Beispiel ist der Einstieg des internationalen Handels- und Dienstleistungskonzerns Otto Group in den Markt mit der Mehrheitsbeteiligung am Telemedizinunternehmen Medgate im März 2022 oder auch der Kauf verschiedener Digital-Health-Firmen durch US-amerikanische Tech-Giganten wie Apple (z.B. Tueo Health, Beddit, Gliimpse), Amazon (z.B. One Medical) oder Microsoft (z.B. Nuance).

Konsolidierungstendenzen sind in Europa angesichts des relativ frühen Entwicklungsstadiums der Digitalisierung im Gesundheitswesen erst begrenzt auszumachen. Überdies erschwert auch die erläuterte Dezentralisierung des Sektors, dass sich gewichtige Player herauskristallisieren. Zu unterschiedlich sind die Bedürfnisse verschiedener Teilmärkte (bspw. der verschiedenen Anspruchsgruppen oder zwischen einzelnen medizinischen Disziplinen), und bereits die Entwicklung einer einzelnen fokussierten Lösung stellt eine beachtliche Herausforderung dar, an der etliche junge Firmen schlussendlich auch scheitern. Eine Konsolidierung würde eine beträchtliche Risikokonzentration darstellen, die ökonomisch derzeit wenig Sinn ergibt.

7. Fazit

In der DACH-Region steht die Digitalisierung im Gesundheitswesen immer noch am Anfang, was die Ausschöpfung ihres Potenzials betrifft. Staatliche Regulierung, historisch gewachsene IT-Infrastrukturen, hohe Implementierungskosten und nicht zuletzt Herausforderungen auf der Finanzierungsseite stellen hohe Hindernisse dar. Dennoch kann der Sektor erste Erfolge vorweisen, insbesondere dank mutigen Initianten, die teilweise auch in Kooperationen proaktiv neue Strukturen entwickeln. Im M&A-Bereich eröffnen sich dadurch spannende Chancen, insbesondere für Investoren, die die oft eng gefassten klassischen Investitionskriterien etwas auszuweiten bereit sind.

Die nahe Zukunft wird zeigen, wie es den relevanten Akteuren gelingt, den digitalen Wandel im Gesundheitswesen voranzutreiben. Die Grundlage für interessante Exits und sich anbahnende Konsolidierungsaktivitäten ist gelegt. Es wird spannend sein zu sehen, wie wichtig die Rolle branchenfremder Unternehmen dabei sein wird und wie sich die historisch gewachsenen Strukturen des Gesundheitssektors nachhaltig verändern werden.

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