28.09.2021 | Dr. Markus Röhrig

Pre-closing Covenants und Integrationsplanung im Lichte des Urteils des Europäischen Gerichts in der Rechtssache Altice

In seinem Grundsatzurteil Ernst & Young (C-633/16) hat der Europäische Gerichtshof im Jahr 2018 dringend notwendige Klarstellungen zu Inhalt und Grenzen des Vollzugsverbots getroffen. Dennoch bleiben jedoch Fragen mit teils hoher Relevanz für die M&A-Praxis unbeantwortet. Dr. Markus Röhrig von Hengeler Mueller beleuchtet in seinem Beitrag vor diesem Hintergrund Pre-closing Covenants und Integrationsplanung im Lichte des Urteils des Europäischen Gerichts in der Rechtssache Altice.

optional, Recht und Steuern, Post Merger Integration

1. Einleitung

In seinem Grundsatzurteil Ernst & Young (C-633/16) hat der Europäische Gerichtshof im Jahr 2018 dringend notwendige Klarstellungen zu Inhalt und Grenzen des Vollzugsverbots getroffen. Gegen das Vollzugsverbot verstoßen hiernach nur Maßnahmen, die ganz oder teilweise, tatsächlich oder rechtlich zu einer Veränderung der Kontrolle über das Zielunternehmen beitragen, das heißt hierfür erforderlich sind. Dass eine Maßnahme durch die Transaktion bedingt ist oder Marktwirkungen zeitigt, ist nicht ausreichend. Dennoch bleiben jedoch Fragen mit teils hoher Relevanz für die M&A-Praxis unbeantwortet. Dies gilt seit der Entscheidung der EU-Kommission in der Sache Altice insbesondere für den Bereich der sogenannten Pre-closing Covenants und die Integrationsplanung. Am 22. September 2021 hat das Europäische Gericht die Entscheidung der EU-Kommission weitgehend bestätigt – leider ohne, dass für die M&A-Praxis hiermit Klarheit geschaffen wäre.

Pre-closing Covenants erlegen dem Veräußerer beziehungsweise der Zielgesellschaft typischerweise Verhaltenspflichten auf, um den Wert der Zielgesellschaft zwischen Signing und Closing zu erhalten, zum Beispiel Zustimmungsvorbehalte zugunsten des Erwerbers. Seit einigen Jahren nutzen die Parteien den Zeitraum zwischen Signing und Closing zudem vermehrt für die Integrationsplanung. Im Idealfall soll die Zielgesellschaft ihre Tätigkeit am „Day 1“ nach Closing nahtlos in den Strukturen des neuen Konzerns fortsetzen können. In beiden Fällen sind das fusionskontrollrechtliche Vollzugsverbot (z.B. Art. 7 FKVO) und das allgemeine Kartellverbot (insbes. Art. 101 AEUV) zu beachten. Das Vollzugsverbot untersagt den Vertragsparteien, Transaktion zu vollziehen, bevor die zuständige Kartellbehörde, zum Beispiel die EU-Kommission, die erforderliche Fusionskontrollfreigabe erteilt hat. Das Kartellverbot ist insbesondere von Bedeutung, wenn Erwerber und Zielgesellschaft aktuelle oder potenzielle Wettbewerber sind. Es verlangt von den Vertragsparteien, dass sie bis zum Closing weiterhin als unabhängige Unternehmen agieren, ihr (Markt-)Verhalten nicht abstimmen und wettbewerblich sensible Informationen nicht untereinander austauschen.

Im Jahr 2018 hat die EU-Kommission mit ihrer Entscheidung in dem Fall Altice die M&A-Praxis aufgeschreckt. Der Fall betraf den Erwerb von PT Portugal, eines portugiesischen Telekommunikations- und Multimediaunternehmens, durch Altice, einen konkurrierenden Kabeldienst- und Telekommunikationsanbieter.

2. Umfangreicher Zugriff auf Zielgesellschaft

Der Kaufvertrag sah einen umfangreichen Katalog von Maßnahmen vor, deren Durchführung der vorherigen Zustimmung von Altice bedurfte; diese sollte Altice jedoch nicht aus unbilligen Gründen verweigern dürfen. Nach den Feststellungen der EU-Kommission soll Altice in dem Zeitraum zwischen Signing und Closing der Zielgesellschaft zudem in einer Reihe von Fällen Weisungen erteilt beziehungsweise wettbewerblich sensible Informationen von der Zielgesellschaft erbeten und erhalten haben. Die EU-Kommission sah hierin einen Verstoß sowohl gegen das Vollzugsverbot (Art. 7 FKVO) als auch gegen die Verpflichtung, die Transaktion vor ihrem Vollzug anzumelden (Art. 4 Abs. 1 FKVO). Für jeden dieser Verstöße verhängte die EU-Kommission ein Bußgeld in Höhe von jeweils 62,25 Mio. EUR – insgesamt also 125 Mio. EUR.

Das Europäische Gericht hat die Entscheidung der EU-Kommission am 22. September 2021 in der Sache bestätigt und lediglich das Bußgeld um circa 6,3 Mio. EUR auf nunmehr insgesamt 118,7 Mio. EUR reduziert (Altice/Kommission, T-425/18). Das Gericht teilt insbesondere die Auffassung der EU-Kommission, dass die Gewährung eines Zustimmungsvorbehalts zugunsten von Altice in Bezug auf folgende Maßnahmen unzulässig war: die Bestellung und Abberufung des Managements der Zielgesellschaft; Änderungen der Preispolitik oder der allgemeinen Geschäftsbedingungen der Zielgesellschaft, auch wenn von dem Vorbehalt konkrete Preisanpassungen ausgenommen waren, die die Zielgesellschaft im Tagesgeschäft vornimmt, um die Abwanderung von Kunden zu verhindern; den Abschluss von Verträgen und das Eingehen von Verbindlichkeiten, sofern diese bestimmte (niedrige) Wertschwellen überschreiten; den Abschluss, Änderungen und die Beendigung von Verträgen mit wesentlicher Bedeutung für die Zielgesellschaft; und den Erwerb von Vermögensgegenständen, deren Wert eine bestimmte (niedrige) Schwelle überschreitet. Einen Verstoß gegen das Vollzugsverbot hat das Gericht weiterhin bei einer Reihe von Vorfällen gesehen, bei denen Altice der Zielgesellschaft Weisungen erteilt beziehungsweise sich mit ihr abgestimmt hat hinsichtlich der Durchführung einer Werbekampagne, namentlich für Post-paid-Mobilfunkdienste; der Verlängerung eines Vertriebsvertrags, insbesondere für einen bestimmten Fernsehkanal; der Auswahl von und des Abschlusses von Verträgen mit bestimmten Lieferanten, insbesondere für Radio-Access-Network-Dienste und TV-Inhalte; der Ausweitung des Produktangebots, insbesondere der Einführung eines neuen Fernsehkanals; dem Erwerb bestimmter Vermögenswerten, namentlich von Teilen des nationalen Telekommunikationsnetzes; und der Ausschreibung eines Vertrags über das Outsourcing bestimmter Dienstleistungen an Dritte.

3. Bad Cases – bad Law

Die Hoffnung der M&A-Praxis, das Gericht könnte die Entscheidung der EU-Kommission zumindest teilweise korrigieren, hat sich mit dem Urteil vom 22. September zerschlagen. Man mag auch – nicht ganz zu Unrecht – kritisieren, dass das Urteil von einer „gewissen“ Praxisferne geprägt ist. So regt das Gericht etwa an, die Vertragsparteien könnten bei Zweifeln über die Zulässigkeit einzelner SPA-Klauseln oder Verhaltensweisen den Rat der EU-Kommission einholen oder eine Befreiung vom Vollzugsverbot beantragen. In der Dynamik einer M&A-Transaktion ist das schlicht unrealistisch. Die EU-Kommission wird sich nicht als Rechtsberater der Vertragsparteien einspannen lassen, und eine Befreiung vom Vollzugsverbot ist nur in Ausnahmesituationen denkbar. Ganz überraschen kann das Urteil im Ergebnis dennoch nicht. In der Sache wird man eingestehen müssen, dass die Covenants teilweise ungewöhnlich weitreichend formuliert waren und Altice in Einzelfällen durchaus tief in das Tagesgeschäft der Zielgesellschaft eingriffen hat. „Bad cases make bad law“, könnte man sagen.

Gleichwohl: Auch nach Altice wird die Praxis weiterhin Pre-Closing Covenants nutzen – und sie darf das grundsätzlich auch tun. Allerdings werden die Vertragsparteien und ihre Rechtsberater deren Ausgestaltung (noch) mehr Beachtung schenken müssen. Das Gericht hält Pre-Closing Covenants jedenfalls für zulässig, wenn und soweit sie dazu erforderlich sind, den Wert des erworbenen Geschäfts im Zeitraum zwischen Signing und Closing zu erhalten. Das Gericht lässt auch die Tür ein Stück weit offen für Regelungen, die erforderlich sind, um eine Aushöhlung der kommerziellen Integrität der Zielgesellschaft zu verhindern. In beiden Fällen darf der Erwerber jedoch nicht die Möglichkeit erhalten, bestimmenden Einfluss auf die Zielgesellschaft auszuüben. Wo genau die „rote Linie“ verläuft, bleibt leider auch nach Altice unklar. Abstand nehmen sollten Vertragsparteien jedenfalls von der Vereinbarung von Zustimmungsvorbehalten in Bezug auf den Geschäftsplan, das Jahresbudget und die Besetzung des Managements der Zielgesellschaft; hinsichtlich deren normalen Geschäftsbetriebs („ordinary course“) und für Maßnahmen, deren finanzielle Auswirkungen relativ gering sind im Verhältnis zum Wert des erworbenen Geschäfts.

4. Unsicherheiten bleiben

Unklar ist, ob sich aus dem Urteil Folgen für die Integrationsplanung ergeben. Mit Spannung erwartet wurde, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen das Gericht den reinen Austausch wettbewerblich sensibler Informationen (auch) als Verstoß gegen das Vollzugsverbot einstufen würde. In diesem Fall wären einem solchen Austausch – anders als beim Kartellverbot – auch dann engere Grenzen gesetzt, wenn Erwerber und Zielgesellschaft nicht miteinander in Wettbewerb stehen. Das Urteil trifft hierzu – leider – keine klare Aussage. Die EU-Kommission habe den Austausch wettbewerblich sensibler Informationen nicht als eigenständigen Verstoß gewertet, sondern lediglich als ergänzenden Nachweis dafür herangezogen, dass Altice – durch die oben aufgelisteten Maßnahmen – bestimmenden Einfluss auf die Zielgesellschaft ausgeübt habe. Es handele sich also nicht um einen Fall „reinen“ Informationsaustauschs. Andererseits weist das Gericht darauf hin, dass die Informationen nach Abschluss des SPA ausgetauscht worden seien und daher jedenfalls nicht erforderlich gewesen seien, um die Zielgesellschaft zu bewerten. Zugleich seien die ausgetauschten Informationen kommerziell und wettbewerblich hoch sensibel gewesen. Altice als Erwerberin habe daher Zugang zu Informationen gehabt, zu denen das Unternehmen keinen Zugang hätte haben sollen – mit welchen Folgen, bleibt offen.

Für die M&A-Praxis wird man Altice nach alledem hinsichtlich der Frage, ob und in welchem Umfang die Vertragsparteien vor Closing die Integration vorbereiten dürfen, keine neuen Erkenntnisse entnehmen können. Insoweit besteht keine Notwendigkeit, die Grenzen zulässiger Integrationsplanung neu oder gar enger zu ziehen. Vielmehr gilt weiterhin: Zulässig sind Maßnahmen, die den Vollzug einer Transaktion lediglich vorbereiten. Unzulässig ist hingegen die Vorwegnahme des Vollzugs dadurch, dass dem Erwerber bereits bestimmender Einfluss auf die Zielgesellschaft eingeräumt wird oder beide Unternehmen sich schon als Einheit geben. Der Austausch wettbewerblich sensibler Informationen ist – wenn Erwerber und Zielgesellschaft Wettbewerber sind – einem gesonderten Clean Team vorbehalten. Der Austausch darf auch nicht dazu dienen, Maßnahmen zu befördern, die letztlich schon in das Geschäft der Zielgesellschaft eingreifen.

Das Urteil in der Rechtssache Altice ist noch nicht rechtskräftig. Insoweit bleibt die Hoffnung, dass der Europäische Gerichtshof die Linie der Vorinstanz korrigiert oder der M&A-Praxis zumindest weitere Auslegungshinweise an die Hand gibt.

Autor
Dr. Markus Röhrig

Dr. Markus Röhrig ist Partner bei Hengeler Mueller in Brüssel. Er berät in allen Fragen des europäischen und deutschen Kartellrechts.

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