Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Illumina/GRAIL
Bis März 2021 konnten Unternehmen eine Transaktion, die weder nach den Vorschriften der EU-Fusionskontrollverordnung (FKVO) noch in einem EU-Mitgliedstaat der Fusionskontrolle unterlag, unbesorgt vollziehen. Das hat(te) sich im März 2021 grundlegend geändert, als die Europäische Kommission (Kommission) einen neuen Leitfaden zu Art. 22 FKVO veröffentlichte
1. Einleitung
Bis März 2021 konnten Unternehmen eine Transaktion, die weder nach den Vorschriften der EU-Fusionskontrollverordnung (FKVO) noch in einem EU-Mitgliedstaat der Fusionskontrolle unterlag, unbesorgt vollziehen. Das hat(te) sich im März 2021 grundlegend geändert, als die Europäische Kommission (Kommission) einen neuen Leitfaden zu Art. 22 FKVO veröffentlichte.1 Darin vertrat sie in Abkehr von ihrer früheren Praxis die Auffassung, dass Mitgliedstaaten eine Verweisung nach Art. 22 FKVO auch für solche Zusammenschlüsse beantragen könnten, für deren Prüfung sie nach ihren eigenen Regeln nicht zuständig seien. Im Vorgriff zu dem Leitfaden hatte die Kommission bereits den beabsichtigten Erwerb von GRAIL durch Illumina aufgegriffen. Mit Urteil vom 3. September 2024 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) dieser neuen Praxis die Grundlage entzogen.2 Was folgt hieraus für die M&A-Praxis?
2. Hintergrund
Nach Art. 22 FKVO können Mitgliedstaaten die Kommission ersuchen, einen Zusammenschluss zu prüfen, der zwar die Umsatzschwellen der FKVO nicht erfüllt (für den die Kommission also an sich nicht zuständig ist), aber den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigen kann und den Wettbewerb im Hoheitsgebiet des verweisenden Mitgliedstaats erheblich zu beeinträchtigen droht. Bis März 2021 riet die Kommission den Mitgliedstaaten davon ab, einen Verweisungsantrag für Zusammenschlüsse zu stellen, die (auch) die nationalen Anmeldeschwellen nicht erfüllen. Dann vollzog die Kommission eine Kehrtwende. Um eine vermeintliche Kontrolllücke bei sogenannten „Killer-Akquisitionen“ zu schließen, wollte sie nun gezielt auf die Verweisung solcher Transaktionen hinwirken, die sonst überhaupt nicht geprüft würden.
Das erste „Opfer“ dieser neuen Politik war die im September 2020 bekannt gegebene, geplante Übernahme von GRAIL, das Bluttests für die Krebsfrüherkennung entwickelt, durch Illumina. Sie war in keiner Jurisdiktion anmeldepflichtig, weil GRAIL keinerlei Umsätze erzielte. Nach der Beschwerde eines Wettbewerbers sah die Kommission mögliche wettbewerbliche Bedenken und forderte die Mitgliedstaaten im Februar 2021 auf, eine Verweisung nach Art. 22 FKVO zu beantragen. Mehrere Mitgliedstaaten kamen dem nach. Die Kommission gab den Verweisungsanträgen im April 2021 statt. Hiergegen erhob Illumina Nichtigkeitsklage beim Gericht der Europäischen Union (EuG), das das Vorgehen der Kommission in einem Urteil aus Juli 2022 bestätigte.3
In der Folge verhängte die Kommission gegen Illumina ein Rekordbußgeld in Höhe von 432 Mio. EUR, weil das Unternehmen den Erwerb noch während des Fusionskontrollverfahrens, das heißt unter Verstoß gegen das Vollzugsverbot, umgesetzt hatte. Schließlich untersagte die Kommission die Transaktion und gab Illumina auf, GRAIL zu veräußern. Die Veräußerung erfolgte, nachdem das Vorhaben auch in den USA auf Gegenwind gestoßen war, Mitte des Jahres 2024.
Die Rechtsmittel von Illumina und GRAIL gegen das Urteil des EuG hatten nun Erfolg. Der EuGH hob das Urteil des EuG auf und erklärte die Verweisungsentscheidung der Kommission für nichtig. Daraufhin nahm die Kommission sämtliche gegen Illumina und GRAIL erlassenen weiteren Entscheidungen zurück, inklusive der Untersagung, des Bußgeldes sowie der Anordnung zum Abverkauf von GRAIL.
3. Das Urteil des EuGH
Mit dem Urteil des EuGH steht fest, dass Mitgliedstaaten einen Verweisungsantrag nach Art. 22 FKVO nur stellen dürfen, wenn sie nach ihren eigenen, nationalen Regeln für die Prüfung eines Zusammenschlusses zuständig sind. Damit ist ausgeschlossen, dass die Kommission auf der Grundlage von Art. 22 FKVO Transaktionen an sich zieht, die weder in ihre noch die Zuständigkeit irgendeines Mitgliedstaats fallen. Beachtenswert sind vor allem folgende Aussagen des EuGH:
•Der Verweisungsmechanismus des Art. 22 FKVO ist eingeführt worden, weil bestimmte Mitgliedstaaten nicht über eine nationale Fusionskontrolle verfügten und die Kontrolle von Zusammenschlüssen ermöglicht werden sollte, die den Wettbewerb in solchen Mitgliedstaaten verfälschen könnten. Nichts in den Gesetzesmaterialien deutet darauf hin, dass man Art. 22 FKVO als „Korrektiv“ intendiert habe, um alle Zusammenschlüsse einer Kontrolle unterwerfen zu können, die möglicherweise erhebliche Auswirkungen auf den Wettbewerb im Binnenmarkt haben, unabhängig davon, ob die Aufgreifschwellen des verweisenden Mitgliedstaats erfüllt sind. Mit Art. 22 FKVO sollte keine Abhilfe geschaffen werden für etwaige Unzulänglichkeiten der starren Umsatzschwellen in Art. 1 FKVO.
•Unternehmen müssen – schon wegen des Vollzugsverbots – ohne weiteres feststellen können, ob und bei welcher Behörde ein geplanter Zusammenschluss anmeldepflichtig und wann mit einer Entscheidung zu rechnen ist. Die Bestimmung von Zuständigkeiten anhand von Umsatzschwellen ist ein wichtiger Garant für Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit. Ein System, das Unternehmen zu parallelen informellen Kontakten mit allen Mitgliedstaaten nötigt, um Fusionskontrollerfordernisse bestimmen zu können, steht im Widerspruch zu tragenden Prinzipien der europäischen Fusionskontrolle: Effektivität, Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit.
•Der europäische Gesetzgeber hat bei der Festlegung der Umsatzschwellen in Art. 1 FKVO in Kauf genommen, dass bestimmte Transaktionen nicht der Fusionskontrolle unterliegen, auch wenn sie den Wettbewerb im Binnenmarkt beeinträchtigen können. Sollten diese Regeln zu Schutzlücken führen, ist es Sache des Unionsgesetzgebers, für Abhilfe zu sorgen. Hierfür hat er zum Beispiel die Möglichkeit geschaffen, die Anmeldeschwellen in einem vereinfachten Verfahren anzupassen.
4. Wie geht es weiter?
Unmittelbar nach dem Urteil kündigte die scheidende EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager an, man werde überlegen, wie sichergestellt werden könne, dass die Kommission Transaktionen unterhalb der Anmeldeschwellen, aber mit möglicherweise erheblichen Auswirkungen auf den Binnenmarkt prüfen könne. Auch der designierten neuen Wettbewerbskommissarin Teresa Ribera wurde in ihrem „Mission Letter“ aufgegeben, die mit „Killer-Akquisitionen verbundenen Risiken“ zu adressieren. Es ist zu erwarten, dass die Kommission, der Unionsgesetzgeber und/oder die Mitgliedstaaten zeitnah Maßnahmen hierzu ergreifen werden. Denkbar wären etwa:
•Eine gesetzliche Anpassung der Schwellenwerte der FKVO, beispielsweise durch die Einführung einer europäischen Transaktionswertschwelle oder des Verweisungsmechanismus des Art. 22 FKVO, so dass die Antragsbefugnis unabhängig davon besteht, ob die Schwellenwerte des verweisenden Mitgliedstaats erfüllt sind. Denkbar wäre auch eine Befugnis der Kommission, Zusammenschlüsse unterhalb der Anmeldeschwellen von Amts wegen zu prüfen oder die Parteien zu deren Anmeldung aufzufordern (sog. „Call-in Recht“).
•Eine Erweiterung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten, so dass diese vermeintliche „Killer-Akquisitionen“ selbst prüfen oder nach Art. 22 FKVO an die Kommission verweisen können. Tatsächlich haben unmittelbar nach dem Urteil einzelne Mitgliedstaaten angekündigt, Call-in-Rechte einführen zu wollen. Teilweise existieren solche Rechte schon heute. Denkbar ist auch die Einführung von Transaktionswertschwellen, vergleichbar mit den Regelungen in Deutschland und Österreich.
•Ein Rückgriff auf die Rechtsprechung des EuGH i.S. Towercast.4 Hiernach können Mitgliedstaaten prüfen, ob der Vollzug eines nicht anmeldepflichtigen Zusammenschlusses den Tatbestand des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung verwirklicht.
Eines scheint jedenfalls sicher: Auch wenn der EuGH der neuen Praxis der Kommission zu Art. 22 FKVO einen Riegel vorgeschoben hat, werden Kommission und Mitgliedstaaten Wege finden, um sogenannte „Killer-Akquisitionen“ prüfen zu können.
5. Was bedeutet das Urteil für die M&A-Praxis?
Müssen Unternehmen nach dem Urteil nicht mehr befürchten, dass Kartellbehörden in der EU Transaktionen prüfen und deren Vollzug solange „auf Eis legen“, obwohl eine fusionskontrollrechtliche Anmeldepflicht nicht besteht? Die Antwort hierauf lautet wohl: nein. Das liegt vor allem daran, dass eine Vielzahl von Mitgliedstaaten ihren Behörden seit Beginn der Illumina/GRAIL-Saga Call-in Rechte eingeräumt haben.5 Sie können „unterschwellige“ Transkationen selbst prüfen und – auf dieser Basis – wohl nun auch gemäß Art. 22 FKVO an die Kommission verweisen. Was bedeutet dies für M&A-Vorhaben?
5.1 Besteht ein Aufgreif- und Verweisungsrisiko?
Auch wenn keine Anmeldepflichten bestehen, müssen die Parteien prüfen, ob ihr Vorhaben das Interesse von Wettbewerbsbehörden wecken könnte. Das betrifft nicht nur „Killer-Akquisitionen“. Ein Aufgreifrisiko kann auch in anderen Fällen bestehen, wenn etwa das Target bislang keinen oder einen geringen Umsatz erzielt, aber künftig einen erheblichen Marktanteil erlangen könnte, bereits in erheblichem Umfang Eigenkapital von Investoren erhoben hat oder eine auffällige Diskrepanz zwischen Kaufpreis und Umsatz besteht. Auch die Tätigkeit in bestimmten Sektoren (z.B. Digital oder Pharma), oder der Zugang zu wesentlichen Einsatzstoffen, Infrastruktur, Daten oder IP-Rechten kann ausschlaggebend sein. Die von der Kommission im Dezember 2022 zu Art. 22 FKVO veröffentlichten Q&As6 bieten hier weiterhin hilfreiche Anhaltspunkte.
5.2 Wie lassen sich Aufgreif- und Verweisungs- risiken und etwaige Auswirkungen minimieren?
Können die Parteien ein Aufgreifrisiko nicht ausschließen, müssen sie prüfen, ob die Transaktion Auswirkungen in Mitgliedstaaten hat, deren Behörden über ein Call-in-Recht verfügen, und ob diese Behörden hiervon Gebrauch machen könnten. Sodann ist zu überlegen, wie die mit dem Aufgreifrisiko verbundene Unsicherheit adressiert werden kann.
•Die Parteien können zunächst versuchen, die Transaktion zu vollziehen, bevor Mitgliedstaaten ihr Aufgreifrecht ausüben. Mit dem Aufgreifen kann je nach Jurisdiktion ein Vollzugsverbot entstehen. Dieses geht jedoch ins Leere, wenn bereits vollzogen wurde. Allerdings besteht das Aufgreifrisiko nach Vollzug fort und kann dazu führen, dass die Transaktion untersagt wird und rückabzuwickeln ist.
•Die Parteien können an die nationalen Wettbewerbsbehörden, bei denen ein Aufgreifrisiko besteht, herantreten. Bestimmte Mitgliedstaaten mit Aufgreifrechten ermöglichen eine freiwillige Anmeldung. Dies beseitigt nicht nur die Unsicherheit, ob das Aufgreifrecht ausgeübt wird, sondern setzt auch die Fristen zur Prüfung des Vorhabens in Gang. In Jurisdiktionen, die keine freiwillige Anmeldung vorsehen, kann jedenfalls eine Abstimmung mit der Behörde über die Ausübung des Aufgreifrechts erfolgen. Möglicherweise können die Parteien die Behörde auch überzeugen, dass das Vorhaben nicht zu wettbewerblichen Bedenken führt, und von einem Aufgreifen abbringen.
•Alternativ (oder parallel) können die Parteien Kontakt zur Kommission suchen. Insbesondere wenn die Parteien davon ausgehen, dass nationale Wettbewerbsbehörden ihre Call-in-Rechte ausüben werden, kann es sinnvoll sein, auf eine Verweisung an die Kommission gemäß Art. 22 FKVO hinzuwirken. Allerdings verbleibt in diesem Fall das Risiko, dass sich einzelne Mitgliedstaaten einem Verweisungsantrag nicht anschließen und die Transaktion parallel zur Kommission selbst untersuchen.
•Die Parteien können auch einen Antrag auf Verweisung an die Kommission nach Art. 4 Abs. 5 FKVO stellen, wenn das Vorhaben nach den Rechtsordnungen von mindestens drei Mitgliedstaaten „geprüft werden könnte“. Dies ist wohl für Mitgliedstaaten zu bejahen, in denen die Voraussetzungen für die Ausübung eines Call-in-Rechts gegeben sind. Sofern die Mitgliedstaaten der Verweisung nicht widersprechen, wäre die Kommission ausschließlich zuständig.
5.3 Welche vertraglichen Absicherungen sind erforderlich?
Die Parteien sollten in den Transaktionsdokumenten für den Fall eines Aufgreifrisikos Vorkehrungen treffen. Dies betrifft die Vollzugsbedingungen, Kooperationspflichten und das Long-Stop-Date. Auch können Regelungen zu Verpflichtungszusagen oder einer drohenden Rückabwicklung bereits vollzogener Vorhaben sinnvoll sein.
1 Leitfaden der Kommission zur Anwendung des Verweisungssystems nach Artikel 22 der Fusionskontrollverordnung auf bestimmte Kategorien von Vorhaben, ABl. 2021 Nr. C 113/1. Im Dezember 2022 veröffentlichte die Kommission ein ergänzendes Q&A Dokument, abrufbar unter der folgenden Adresse: https://competition-policy.ec.europa.eu/system/files/2022-12/article22_recalibrated_approach_QandA.pdf.
2 EuGH, Urteil v. 3. September 2024, verb. Rs. C-611/22 P und C-625/22 P, Illumina und Grail/Kommission.
3 EuG, Urteil v. 13. Juli 2022, Rs. T-227/21, Illumina/Kommission.
4 EuGH, Urteil v. 16. März 2023, Rs. C-449/21, Towercast.
5 Dänemark, Italien, Irland, Lettland, Litauen, Schweden, Slowenien und Ungarn.
6 Vgl. Fn. 1.