18.08.2022 | Anna Happe, Dr. Marcel Nuys

EU-Fusionskontrolle: EuG-Urteil bringt Transaktionssicherheit ins Wanken

optional, Recht & Steuern

Der Worst Case für die M&A-Praxis ist eingetreten: Das Europäische Gericht billigt die neue Praxis der EU-Kommission, Transaktionen fusionskontrollrechtlich prüfen zu können, obwohl weder sie selbst noch ein Mitgliedstaat zuständig ist. Auf Unternehmen dürfte – vor allem bei Transaktionen im Digitalbereich – erheblicher Mehraufwand zukommen. Was noch schwerer wiegt: Die Transaktionssicherheit droht in Gefahr zu geraten.

Worum geht es?

Art. 22 der europäischen Fusionskontrollverordnung (FKVO) ermöglicht es nationalen Wettbewerbsbehörden, die Europäische Kommission darum zu bitten, eine Transaktion ausnahmsweise auch dann zu prüfen, wenn sie nicht originär zuständig ist. Voraussetzen soll dies, dass der Deal zum einen den Handel zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt und zum anderen den Wettbewerb im Hoheitsgebiet des den Antrag stellenden Mitgliedstaates erheblich zu beeinträchtigen droht.

Bisher hat die Kommission die Auffassung vertreten, Mitgliedstaaten sollen nur dann verweisen, wenn sie zwar selbst zuständig sind, die Kommission aber für besser berufen halten, den Deal zu prüfen. Im vergangenen Jahr kam dann die Kehrtwende: Auch eine nach nationalem Recht unzuständige Wettbewerbsbehörde soll Fälle an die Kommission verweisen können.

Welche Transaktionen sind betroffen?

Diese Neuausrichtung wurde, wie viele andere kartellrechtlichen Trends der vergangenen Jahre, durch Transaktionen im Tech- und Pharmabereich getrieben. Aktuell ist die Anmeldepflicht einer Transaktion in der Regel von den Umsätzen der Unternehmen abhängig. Häufig fallen daher Transaktionen mit Start-Ups, die kaum oder wenig Umsatz erzielen, durch das Fusionskontrollraster. Für einen nicht tragbaren Zustand hält die Kommission dies insbesondere bei „Killer Acquisitions”, also Transaktionen, bei denen Unternehmen mit dem Ziel aufgekauft werden, das Unternehmen bzw. die damit verbundene Technologie vom Markt zu nehmen.

Anstatt den naheliegenden Weg zu wählen und bei den Aufgreifschwellen nachzuschärfen (so wie es beispielsweise Deutschland und Österreich schon vor Jahren getan haben), will die Kommission Artikel 22 FKVO bemühen. Mitgliedstaaten sollen an die Kommission verweisen, sofern eine Transaktionspartei (in der Regel das Target) das Potenzial hat, eine bedeutende Rolle im Wettbewerb zu spielen, dieses sich aber nicht in ihrem derzeitigen Umsatz widerspiegelt.

Erstes „Opfer“ der neuen Anwendungspraxis: der Fall Illumina/Grail

Die erste von der Kommission unter der neuen Art. 22 FKVO Praxis in Blick genommene Transaktion betrifft die Übernahme von GRAIL durch das US-Genomikunternehmen Illumina. GRAIL entwickelt onkologische Bluttest zur Früherkennung von Krebserkrankungen, vertreibt seine Produkte aber erst seit April 2021. Bei Signing der Transaktion im September 2020 waren die Schwellen für eine Anmeldepflicht bei der Kommission (und den Mitgliedstaaten) daher nicht erreicht.

Gleichwohl hielt die Kommission GRAIL für ein Unternehmen mit enormem Potential und ermunterte nationale Wettbewerbsbehörden einen Verweisungsantrag zu stellen. Mehrere Mitgliedstaaten folgten diesem Aufruf und die Kommission erklärte sich für zuständig. Illumina und GRAIL legten hiergegen Rechtsmittel ein.

Mit Urteil vom 13. Juli 2022 (Rechtssache T-227/21) billigte das Europäische Gericht das Vorgehen der Kommission und stimmte ihrer Neuinterpretation des Art. 22 FKVO vollumfänglich zu. Weder Wortlaut noch Gesetzgebungsgeschichte sprächen gegen die weitergehende Interpretation des Art. 22 FKVO durch die Kommission. Die Norm habe sich mittlerweile gewandelt zu einem Mittel, um die Anwendung des EU-Wettbewerbsrechts auf grenzüberschreitende Deals zu stärken und das „One-Stop-Shop“-Prinzip zu gewährleisten. Ratio des Art. 22 FKVO sei es auch, zu vermeiden, dass Zusammenschlüsse der Kontrolle entgehen, die trotz geringen Umsatzes Verbraucher schädigen und bedeutsame Auswirkungen auf die Wettbewerbsstruktur in der EU haben könnten.
Illumina und GRAIL haben angekündigt, gegen das Urteil vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen.

Offene Fragen

Die Entscheidung lässt viele Fragen unbeantwortet.

Für eine Verweisung nach Art. 22 FKVO muss ein Mitgliedstaat innerhalb von 15 Arbeitstagen nach Kenntnis von der Fusion einen Verweisungsantrag stellen, den die Kommission dann annehmen kann. Das Gericht hat im Fall Illumina/GRAIL klargestellt, dass die reine öffentliche Bekanntgabe einer Transaktion nicht ausreichend für die Kenntnis des Mitgliedstaates ist. Es wird vielmehr ein aktives Herantreten mit hinreichenden Informationen der Parteien an die Wettbewerbsbehörden gefordert. Bedauerlicherweise bleibt offen, wann genau hinreichende Informationen vorliegen, um die Antragsfrist in Gang zu setzen. Hier ist im Zweifelsfall lieber „mehr” als „weniger” zu übermitteln.

Die Kommission kann eine Verweisung auch herbeiführen, indem sie die nationalen Wettbewerbsbehörden im Zuge von „Invitation Letters” über die Fusion in Kenntnis setzt und einen Verweisungsantrag erbittet. Völlig unklar ist, wie viel Bearbeitungszeit ihr zwischen Kenntnisnahme von der Transaktion und dem Versenden der „Invitation Letters” zuzugestehen ist.
Beunruhigend ist weiter das drohende Ende der „One-Stop-Shop“-Lösung. Nach diesem Grundprinzip entfällt bei Zuständigkeit der EU-Kommission eine etwaige Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Dies bereitete mit der früheren Anwendung von Art. 22 FKVO bereits gelegentlich Probleme, weil nicht alle zuständigen Mitgliedstaaten sich einem Verweisungsantrag anschließen mussten. Nun ist mit mehr Verweisungsanträgen zu rechnen, und ein nach seinen Vorschriften nicht zuständiger Mitgliedstaat könnte die Fusionskontrolle an die Kommission verweisen, während ein anderer Mitgliedstaat auf seiner Zuständigkeit beharrt und ein paralleles Verfahren einleitet.

Dies konnte bereits im Fall Meta/Kustomer beobachtet werden: Hier prüften sowohl die EU-Kommission (nach einer Verweisung Österreichs) als auch das BKartA den Zusammenschluss eigenständig. Dies führt zu erheblichen Unsicherheiten für künftige Transaktionsparteien. Zu diesem Problemfeld erfolgte bis dato keinerlei Klärung seitens der europäischen Organe – das EuG stellte sogar die Behauptung auf, die Neuinterpretation des Art. 22 FKVO gewährleiste eine bessere Anwendung des „One-Stop-Shop“-Prinzips.

Zudem droht ein Flickenteppich bei der Anwendung von Art. 22 FKVO: Mehrere nationale Wettbewerbsbehörden haben sich – vor Erlass der Entscheidung – gegen die neue Art. 22-Praxis positioniert. Es ist nicht zu erwarten, dass die Entscheidung zu einem Umdenken führen wird. Sollte sich zum Beispiel Deutschland weigern, auf einen „Invitation Letter” hin die Prüfung eines Zusammenschlusses abzugeben, stehen der Kommission bis dato keinerlei Instrumente zur Verfügung, um eine Verweisung durchzusetzen.

Was heißt all das für die M&A-Praxis?

Wie der Fall Illumina/GRAIL zeigt, ist damit zu rechnen, dass die Kommission vermehrt versuchen wird, die fusionskontrollrechtliche Prüfung von Transaktionen an sich zu ziehen. Für den M&A-Kontext lassen sich die folgenden Lehren ziehen, um die Unsicherheiten der neuen Art. 22 FKVO Anwendungspraxis so weit wie möglich abzufedern:

Anzuraten ist eine gewissenhafte Prüfung, ob ein Vorhaben möglicherweise nach Art. 22 FKVO in die Zuständigkeit der EU-Kommission fallen könnte. Ist eine erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs nach Ansicht der Beteiligten zumindest denkbar, besteht die Gefahr einer Verweisung nach Art. 22 FKVO. Dann sollten alle betroffenen nationalen Wettbewerbsbehörden informiert werden.

Besonderes Augenmerk ist auch darauf zu richten, dass die Kommission gewillt ist, auch noch bis zu sechs Monate nach dem Closing Verweisungsanträge der Mitgliedstaaten anzunehmen. Hierfür ist wieder ein Inkenntnissetzen der nationalen Behörden durch die Beteiligten, einen Wettbewerber oder einen „Invitation Letter” der Kommission erforderlich. In Ausnahmesituationen können auch spätere Verweisungen in den Augen der Kommission noch angebracht und möglich sein.

Dies sollte auch Einfluss auf die SPA-Verhandlungen haben, insbesondere mit Blick auf Long-Stop Dates sowie Mitwirkungspflichten im Rahmen der Erstellung von Anmeldungen oder Informationsschreiben an Behörden.

Möglicherweise sollte auch von der Option Gebrauch gemacht werden, die Kommission freiwillig über das Transaktionsvorhaben zu unterrichten. So lässt sich frühzeitig grünes Licht in den Fällen erhalten, in denen die Kommission eine Verweisung nach Art. 22 FKVO als nicht in Betracht kommend erklärt.

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